Marcel Hardung

 

A. Biografisches

 

Marcel Hardung wurde 1958 in Düsseldorf geboren. Nach dem Abitur 1977 arbeitete er zunächst ein Jahr lang in den Werkstätten des dortigen Schauspielhauses. Von 1979 bis 1985 absolvierte er eine Ausbildung zum Stahlbautechniker, entwarf 1983 ein Brunnenmodell aus Stahl und Holz (Space Labor) und konstruierte 1986 einen ebenso stabilen wie auch luftig wirkenden Pavillon aus Stahl (Fuchshohl/Frankfurt)). Nebenbei studierte er 1983/84 als Gast Architektur an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf. 1987 erhielt er den Folkwang-Preis für Bildende Kunst, 1989 ein New-York-Reisestipendium für bildende Künstler der Gustav-Poensgen-Stiftung und 1997 ein Japanstipendium der Städte Düsseldorf und Osaka, Kansai.
1984 war Marcel Hardung einer der Mitbegründer des Paul-Pozzoza-Museums in Düsseldorf,
einer zunächst heimatlosen Vereinigung verschiedener bildender Künstler und Künstlerinnen, die seither in lockerer und wechselnder Zusammenarbeit zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland veranstaltet hat, wobei ein eigener Ausstellungsraum dafür nicht benötigt wurde, da mit Hilfe von Gastkuratoren jeweils Teile der sagenhaften Sammlung in befreundeten Institutionen ausgestellt wurden und werden oder für bestimmte Anlässe konzipiert wurden. .
Seit Anfang 2002 hat Hardung einen beständigen Austausch zwischen der BRD und der VR China mit chinesischen Künstlern initiiert und eine Lehrtätigkeit an der Kunstakademie von Tientsin in der Nähe von Peking aufgenommen.


B . Künstlerisches/ Arbeitsweise

 

80er Jahre

 

In den frühen 80er Jahren begann Marcel Hardung Betonabgüsse von Wänden und Ecken seines Ateliers abzunehmen und diese teilweise in Stahlskulpturen zu integrieren, wodurch gewissermaßen fragmentarische Negativabdrücke der realen Welt entstanden, die in ihrer Rohheit und Unfertigkeit den Stellvertretercharakter eines größeren Raum-Ganzen erhielten.

Eisenstangen und Holzplatten montierte er zu anthropomorphen Gebilden, denen ihre karge Ästhetik der puren Materialwirkung und die sparsame Verwendung von Farbe und Accessoires eine hohe Ausstrahlungskraft sicherte.

Sie treten wie (Die Taucher, 1984)

 

aus einem Kasten dreidimensional hervor, oder lehnen graziös im Rahmen einer sie umfangenden Nische, so (Die Coole, 1983),

 

 

die von ferne an Duchamps kubistisch aufgefächerten Akt, eine Treppe hinabsteigend erinnert.
Hardungs Geschöpfe stehen oder hängen wie gesichtslose, collagierte Figurinen in eigens für sie geschaffenen Raumhüllen aus Baulatten (Rundum, 1983). Sie sind aus rohen Brettern und je drei geometrisch zugeschnittenen Furnierholzplatten zusammengefügt, die von Stangen oder Latten gehalten werden. Die Figurinen selbst sind statisch, scheinen aber in der Hüfte einzuknicken, die Schultern zu drehen oder den Kopf anzulehnen und ahmen somit Bewegung nach. Anhand der Titel lassen sich ironische Bezüge herstellen. (Der Kalte Aufstand, 1984)

 

 

z.B. zeigt vier Figurinen, drei helle, eine dunkelbraune, in Kombination mit einer Geschütz-Batterie aus Eisenrohren, die in ihrer Positionierung etwas sehr Martialisches an sich hat, ebenso wie (Die Heizer, 1984), die eine angerostete Granate mit sich führen.
(Loempia, 1983),

 

 

ein Wandrelief von 1983 kann quasi als Konstruktionszeichnung einer solch anthropomorphen Figurine gelten. Hier sind die Holzplatten auf eine weiße Sperrholzplatte montiert. Es zitiert das berühmte Gemälde Olympia von Edouard Manet und hinterfragt es gleichzeitig in gewitzter Art und Weise, da nicht nur die Dame sondern das gesamte Motiv jeglichen Dekors entkleidet wurde. Nur die Augen des Kätzchens zu ihren Füßen tauchen als schwarze Punkte auf.

 

In einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit dem Konstruktivismus entstanden ab 1984 die sogenannten Clubs (Der Club der Drucker, 1984;

 

 

Der Club der Straßenbahner, 1986).

 

 

In Anlehnung an den russischen Avantgarde-Architekten Konstantin Melnikov, dessen Arbeiterclubhäuser jeweils als Versammlungs- und Weiterbildungszentren aber auch als Propagandamittel der Gewerkschaften funktionierten, und die in ihrer dekorlosen Modernität durchaus provokativ wirken sollten, formte Hardung aus Stahlrohr und Beton Skulpturen, und verwendendete damit genau diejenigen, zu Anfang des 20.Jhs. neuartigen Baustoffe.
Gleichzeitig werden Gegenstände verfremdet; eine Druckerpresse, eine Rotationswalze dient primär der Herstellung von Informationsmitteln, aber auch der Agitation und Propaganda.
Der Begriff "Club" in den Titeln tut sein Übriges, indem er so viele nachrangige Assoziationen erlaubt. Im nachrevolutionären Russland bedeutete es Aufenthaltsräume der Arbeiterklasse, heutzutage dagegen etwas Exklusives, zahlkräftigen Konsumenten Vorbehaltenes. Ganz zu schweigen von den noblen englischen Zusammenschlüssen von Gentlemen, in die man vorzugsweise hineingeboren sein muss oder nur über Referenzen aufgenommen wird.

 

Allmählich überführt Hardung die Reihe der anthropomorphen Gestalten (z.B. Die Extra-Terristen, 1988)

 

 

in strenge Stelen, die in Beton oder Holz leicht über Menschenmaß hochaufragend, mit elektrischen Widerständen von Hochspannungsaggregaten verbunden, oder mit Lampen bestückt und von Stahlrohren gestützt oder durchbohrt wurden (Blitz, 1986; Energieprinzip- Rotation, 1985-88, Indo I, II + III, 1988).

 

 

Mal betrachten diese versteinerten Gesellen sich selbst in Betonfernsehschirmen (Indo III, 1989), mal lauschen sie unsichtbaren Wellen, die sie mittels antennenartiger Fortsätze aus dem Äther filtern (Indo I, 1989).

 

 

Das buchstäbliche Umrunden und abwechselnde Blickperspektiven sind erforderlich, um eine Skulptur zur Gänze zu erfassen und ihre verschiedenen Bedeutungsebenen zu verstehen.
Rotation wird zum Prinzip erhoben. Nicht das einzelne Objekt rotiert, vielmehr steht Rotation für eine geistige Haltung, Dinge oder Phänomene immer wieder unter unterschiedlichen Aspekten zu betrachten. Diese Reihe kulminiert in der Arbeit Das Rotationsprinzip - Völkerwandern bildet von 1989,

 

 

in dem Findlinge und modellartige Tempelbauten einen großen, erhöhten Waschmaschinenblock umringen und als eine Art Momentaufnahme stetiger Verwandlung eines fortdauernden Anschauungsprinzips erscheinen. Dies hatte bereits in einer gleichnamigen Arbeit von 1984 seinen Anfang genommen hat, wo ein Piktogramm als Kohlezeichnung auf einem Endlos-Rolleau erscheint, das von einem VW-Motor beständig leise knarrend abgerollt wird (Das Rotationsprinzip - Völkerwandern bildet von 1984).

 

 

Hardung bedient sich ohne Scheu in längst vergangenen Zeitaltern und Kulturen um scheinbar zeitlosen Überresten und Fragmenten durch Rekombination eine völlig neue Bedeutung zu verleihen (Geschichte wird umgedreht, 1983).

 

 

Nicht von ungefähr entstanden diese Werke zur selben Zeit wie die Punk-Musik, die mit ihren eher einfachen Akkorden und hemmungslos übersteuerten Lautstärke, ihren lustvollen und vitalen Zerstörungsstrategien und provokativen Texten eine ganze Generation begeisterte. Sie war einfach, aber kraftvoll, unangepasst und roh, oftmals auch düster und leicht imitierbar, stand also allen offen, weshalb sich viele verschiedene Stilrichtungen entwickelten. Durch die Null-Strategie ist ihre Sprache aber ebenso unverblümt und klar wie auch respektlos und unerschrocken, Charakteristika, die sich durchaus auf Marcel Hardungs Arbeiten in den Jahren zwischen 1978 und 88 anwenden lassen, in denen er im Zweitberuf auch öfters gerne zur Gitarre griff oder Manifeste verfasste und politische Protestkundgebungen organisierte.

 

90er Jahre

 

Immer weiter abstrahiert formieren sich Hardungs Stelen und Betonabgüsse realer Apparate zu Kreisen oder werden zu ringförmigen Installationen zusammengefasst (Rotation - Völkerwandern bildet, 1993),

 

 

in denen die einzelnen Bestandteile vielfältige Beziehungen zueinander aufnehmen, ähnlich den Teilnehmern einer Expedition. Metall, Holz und Beton erzeugen eine fast elektrische Spannung der Elemente untereinander, bei freier Interpretation ihrer jeweiligen Bedeutung. Tonband, Klingeltableau, Radio, Steckdose, Wärmflasche gruppieren sich – in Beton wie zu Stein geworden – um Behälter mit verschiedenen, unidentifizierbaren Inhaltsstoffen herum, die mittig auf einer Kupferplatte stehen. Anklänge an Beuys dürfen und sollen in diesem Zusammenhang nicht geleugnet werden, befasst Hardung sich doch genauso wie dieser große Lehrmeister mit essentiellen Fragen des Lebens, dem Sinn, dem Glauben, dem Zusammenhalt, dem stetigen Gedankenaustausch der Menschen, ihrer Umwelt und den vielfältigen Ansprüchen der einzelnen Individuen.

 

Von zahllosen Reiseerinnerungen ausgehend zieht Hardung notizbuchartig verschiedene Kulturkreise, Zeitalter und Archetypen heran. Mesopotamische Zikkurat-Architekturen nehmen mit zeichenhaften Wesen der Höhlenmalerei Kontakt auf, ägyptische Heiligtümer korrespondieren in Form neuzeitlicher Telekommunikation drahtlos mit modernen Haushaltsmaschinen. Hardungs Herangehensweise ist eine psycho-historische, anachronistische, eine des Sammelns, des Sichtens und Neu-Ordnens von Bedeutungsträgern.
Parallelen zu Aby Warburgs "Mnemosyne-Atlas" oder zum Bild-Atlas von Gerhard Richter lassen sich unschwer ziehen, bleiben sie doch in der scheinbaren Zufälligkeit der auftretenden Formen und Wiederholungen ebenso rätselhaft wie vielsagend. Es sind gleichsam archäologische Grabungen im kollektiven Bewusstsein.


Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, in Hardungs Werken der späten 80er und frühen 90er Jahre bloß eine Befragung der Befindlichkeit des Menschen sehen zu wollen. Sie enthalten auch eine unverhohlene Kulturkritik. Indem sie wie heidnisch-archaische Götzenbildnisse ähnlich den neolithischen Steinkreisen fast rituell angeordnet werden (Rotation - Völkerwandern bildet, 1994), stehen sie – mit einigen Kabeln und Schaltern moderner Maschinen bestückt – einer neuzeitlichen zentralperspektivischen Bildtradition entgegen. Sie wirken dann als uralte Sinnbilder für die Menschen, nun aber des 20. Jhdts., die von brutalen Mächten zu namenlosen Techniksklaven degradiert werden.

 

Gemäß seiner proto-archäologischen Arbeitsweise intergrierte Hardung seit Anfang der 90er Jahre eine Art Schriftzeichen oder Piktogramme in seine Arbeiten, die Bleizeichnungen entstanden. Geritzte und perforierte Bleche aus Blei weisen Oxydflecken auf, die schemenhaft Strukturen erkennen lassen oder in ihrer grau-beigen Zweifarbigkeit räumliche Tiefen oder eine Landschaft vorgaukeln (Wüste/Desert, 1990).

 

 

Sind die Bleche zweigeteilt, zerschnitten oder auch wieder aneinandergelötet (Cutting East/West, 1992; Incision and Cutting, 1992)

 

 

stehen sie für einen Antagonismus beider Bildhälften, die nur zusammen ein Ganzes ergeben.
Einschnitte und Schnitte trennen und vereinen sowohl Bildflächen als auch Hemisphären, wenn man sich von den Titeln leiten läßt.

In schwebenden Installationen wie Die Brücke von Osten nach Westen oder Der Weg ins 21. Jhdt., von 1997

 

 

greift er die kreisförmige Drehbewegung und die statische Anordnung kubischer und zylindrischer Formen nochmals auf. Durch die Verwendung von Drahtgeflecht, Papier und schimmernder Goldfolie erhalten diese Arbeiten nun eine beinahe elegante grazile Leichtigkeit, die Rohre sind zu Stäben geworden, die Dimensionen verkleinert und handhabbarer.

Seit 2000

Seit der Jahrtausendwende reiste Marcel Hardung immer wieder nach China, wo er 2002 eine Gastprofessur an der Akademie der Schönen Künste in Tianjin innehatte. In engem Austausch mit den Studenten, aber auch angeregt von der landschaftlichen Besonderheiten der nördlichen Provinz entstanden eine ganze Reihe eigenartig plastischer Ölgemälde mit aufmontierten Betonabgüssen (Von den Bergen in die Metropolen, 2003).

 

 

Wiederum sind es Reminiszenzen an Technik, nun etwas altertümlich anmutend, wo ein Fernseher oder Monitor aus den 70er Jahren auf den ersten Blick hoffnungslos überholt wirkt, aber diesmal sind die technischen Versatzstücke einer imaginären Natur entgegengesetzt, den Bergen, aufgenommen wie aus der Vogelperspektive. Sie werden dadurch einer konkreten, zeitlichen Dimension enthoben. Es sind ruhige Bilder, die eine universelle Zeichensprache entwickeln und sowohl auf bleibende Konstanten einer Kultur verweisen als auch auf ihren rasanten Wandel durch Industrialisierung, kapitalistische Einflüsse und die globale Vernetzung, in der sich heute sieben Milliarden Menschen in atemberaubenden Tempo immer näher rücken.

 

PAPIERARBEITEN

 

Auch die Serie Habitat von 2006

 

 

zeichnet sich durch die Verwendung nur weniger Materialien, von Papier, Goldfolie und sehr reduzierten, asiatisch anmutenden Schriftzeichen aus. Elektronische Architektur von 2006

 

 

zeigt neben in handgeschöpftes Papier geprägten Geräten, – einem Telefon, einer Fernbedienung, einem Monitor –, einen großen roten Punkt, nicht unähnlich der Sonne auf der japanischen Nationalflagge. Allerdings ist Rot auch die Farbe der kommunistischen Revolution unter Mao in China und eben die alte Symbolfarbe der Han-Chinesen. Immer dient die Zeichenhaftigkeit der Kommunikation zwischen Kunstwerk und Betrachter, aber auch der der Betrachter untereinander, insofern sie zu Interpretation und Diskussion anregen. Das wird gerade dort spannend, wo Kulturkreise aufeinander treffen, wie z.B europäische und vorderasiatische in Istanbul, oder eben westeuropäische und chinesische Künstler Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausloten.
Hardung organisiert künstlerische Austauschprogramme und Begegnungsorte für bildende Künstler und Architekten, Ausstellungen, Galeriegespräche und Stipendien, um dem internationalen, dem interkontinentalen, weltweiten Gedankenaustausch eine Plattform zu bieten und diesen weiter zu befördern. Es geht um das Voneinander lernen in Fortführung unterbrochener Traditionen.

 

Text von Andrea Raehs